1.Vorwort
Ich habe mich endlich dazu entschlossen, eine Art „Serie“ für diesen Blog zu starten. Ziel soll es hierbei sein, die vorhandenen Denkschulen der Internationalen Beziehungen (nachfolgend IB genannt) vorzustellen. Ursprünglich wollte ich mit dem Neorealismus anfangen, weil ich diesbezüglich auf Basis meiner alten Hausarbeiten und der BA-Arbeit jede Menge Quellen und Texte diesbezüglich habe, allerdings habe ich umentschieden und es wird nun mit dem Konstruktivismus losgehen.
2.Grundlegende Definition des Begriffs Konstruktivismus
Der Konstruktivismus ist grundsätzlich ein Sammelbegriff für verschiedene Ideen und Theorien, die davon ausgehen, dass der Mensch die Welt nicht einfach auf Basis ihrer Wahrnehmung abbilden können, sondern konstruieren (vgl. Spektrum 2000). Viele der heute diskutierten Positionen entstanden in den 1960er und 1970er Jahren und entstanden auf der Basis von verschiedenen Philosophen (vgl. Spektrum 2000). Im Allgemeinen beschäftigt sich der Konstruktivismus also mit der Beziehung des „kollektiven sozialen Handelns“ und den sozialen Strukturen (vgl. Krell 2012: 67). Die grundlegende Frage ist also, inwiefern der Mensch sich die Realität, in der er lebt, selbst konstruiert und wie er von den von ihm geschaffenen Strukturen beeinflusst wird.
Der Erlanger Konstruktivismus wurde von den Philosophen Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen begründet und sieht sich als wissenschaftstheoretische Theorie. Ziel ist es, auf Basis der der Lebenspraxis einen „zirkelfreien“ Aufbau der Wissenschaftssprachen zu präsentieren (vgl. Spektrum 2000). Dementsprechend kann man sagen, dass der Erlanger Konstruktivismus sich auf die Rekonstruktion bzw- die Übertragung der Wirklichkeit in eine wissenschaftliche Sprache beschäftigt (vgl. Strebel 2009: 3). Strebel fügt hinzu, dass die meisten der „exakten“ Wissenschaften auf dieser Basis arbeiten (vgl. Strebel 2009: 3). Als exakte Wissenschaften kann man hierbei Fächer wie die Informatik, die Mathematik oder auch das Ingenieurswesen fassen, bei denen man genaue quantitative oder formal-logische Aussagen treffen kann. Geisteswissenschaften hingegen fallen in den Bereich der „weichen“ Wissenschaften.
Der Sozialkonstruktivismus entstammt aus der Soziologie und basiert auf dem Buch „The social construction of reality“ von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Grundlegende Annahme des Sozialkonstruktivismus ist, wie schon oben allgemein beschrieben, dass die Wirklichkeit, die den Menschen umgibt, kein objektiv messbarer Wert sei, sondern sozial konstruiert sei (vgl. Kruse 2020). Der Mensch tritt also einer „sinnhaft konstruierten Wirklichkeit“ (Kruse 2020) entgegen und reproduzieren oder modifizieren diese durch ihre Handlungen.
Daraus kann man schließen, dass der Kernaspekt des Sozialkonstruktivismus daraus besteht, dass der Mensch zum einen durch die konstruierte Wirklichkeit, in die er eintritt, beeinflusst wird und zum anderen diese durch seine Handlungen selbst beeinflussen kann. Man kann dementsprechend von einer wechselseitigen Beziehung sprechen.
Kruse weist darauf hin, dass auch der Sozialkonstruktivismus keine einheitliche Theorie sei, betont allerdings, dass es drei Axiome gebe, auf denen alle Ansätze aufbauen (vgl. Kruse 2013, zitiert nach Kruse 2020).
Das erste Axiom geht darauf ein, dass die Wirklichkeit aufgrund ihrer Konstruktion immer kontingent ist (vgl. Kruse 2020). Als Beispiel nennt der Autor dabei die Qualitative Sozialforschung, bei der davon ausgegangen wird, dass die Wirklichkeit nie eine objektiv feststellbare Wahrheit ist, sondern eine konstruierte Wirklichkeit darstellt (vgl. Kruse 2020). Dies wird auch als Konstruktivitätspostulat bezeichnet. Weiterhin geht man davon aus, dass die Wahrheit im Rahmen der Versionenhaftigkeit stets verschiedene Versionen beinhaltet (vgl. Kruse 2020). Simpel gesprochen kann ein Sachverhalt von zwei Personen komplett verschieden betrachtet werden und ihre Schlussfolgerungen würden als verschiedene Versionen der Wahrheit betrachtet werden.
Aus dem Konstruktivitätspostulat wird schließlich das zweite Axiom abgeleitet: „Alles hat bzw. ergibt einen Sinn!“ Auf dem ersten Blick klingt dieses Axiom banal, ist aber ein elementarer Bestandteil der qualitativen Sozialforschung (vgl. Kruse 2020). Dieses Axiom funktioniert allerdings nur bei einem Sinnesbegriff, der existentialistisch aufgebaut ist (vgl. Kruse 2020). Unter existentialistisch versteht man die Manifestierung einer Wahrheit und dementsprechend muss es einen Grund geben, warum das passiert ist (vgl. Kruse 2020). Aus den beiden vorherigen Axiomen bildet sich schließlich das letzte Axiom. Dieses geht darauf ein, dass stets alles hinterfragt werden sollte und keine Selbstständigkeiten existieren (vgl. Kruse 2020).
Grundsätzlich kann man am Sozialkonstruktivismus kritisieren, dass ihre Idee, dass die Wirklichkeit stets nur sozial konstruiert bzw. durch den Menschen geschaffen wurde, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und „Grundregeln“ konterkariert. So könnte man z.B das Newtonsche Gravitationsgesetz stets in Frage stellen, weil dies eine von Menschen gemachte Theorie ist und dementsprechend nur eine Version der Wahrheit sei. Als anderes Beispiel kann man die Statik von Gebäuden nennen. Hier existieren im Rahmen des Bauingenieurwesens klar definierte Werte, ab wann ein Gebäude als einsturzgefährdet definiert werden. Diese Werte können sich je nach Art des Gebäudes unterscheiden, allerdings wird man auch hier nicht mit der Idee arbeiten können, dass diese Werte nur eine „Wahrheitsversion“ seien.
Der Sozialkonstruktivismus ist eine Theorie/ein Ansatz, mit dem man sicherlich viele soziale/gesellschaftliche Phänomene erklären kann, allerdings muss man sich bewusst machen, dass auch dieser Ansatz seine Grenzen hat.
3.Der Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen
3.1 Grundannahmen
Die Popularität des Konstruktivismus begann mit dem Ende des kalten Krieges und mit der Problematik, dass die etablierten Denkschulen das überraschende Ende des Konfliktes zwischen den USA und der Sowjetunion nicht vorhersehen konnte. Ein weiterer Faktor war dabei das allgemeine Interesse an den konstruktivistischen Ansätzen und den damaligen Debatten bezüglich des traditionellen Wissenschaftsverständnisses und der Kritik an Rationalismen und Realismen (vgl. Brand 2012: 148). Insgesamt sehnte man sich nach einem Mittelweg in den Denkschulen und daraus resultierte schlussendlich die Idee eines moderaten Konstruktivismus, welcher Querbezüge zu anderen Theoriemodellen aufbauen sollte (vgl. Brand 2012: 149).
Als einer der wichtigsten Schriften diesbezüglich dürfte Alexander Wendt und sein Artikel „Anarchy is what states make of it: the social construction of power politics“ zählen, in welchem er grundsätzlich versucht, eine Brücke zwischen den etablierten Denkschulen und dem Konstruktivismus aufzubauen. Bezüglich des möglichen Potentials eines konstruktivistischen Ansatzes in den internationalen Beziehungen argumentiert er, dass diese sich mit dem Problem der Identitäts- und Interessenbildung beschäftigen und das Handeln von Staaten in einen sozialen Kontext setzen können (vgl.Wendt 1992: 393).
Wendt geht davon aus, dass Staaten im Internationalen Wesen auf verschiedene Art und Weisen auf „Freunde“ und „Feinde“ reagieren und kritisiert dabei den klassischen Anarchie-Begriff des Neorealismus, dass dieser diese Faktoren nicht mit einbeziehe (vgl. Wendt 1992: 397). Allerdings geht Wendt insgesamt davon aus, dass das Konzept der Anarchie eine Daseinsberechtigung hat, allerdings kein unveränderlicher Bestandteil der Internationalen Beziehungen ist, sondern konstruiert ist (vgl. Jaeger 1996: 316). Als Anarchie definiert man hierbei, dass es keine weiteren Instanzen über den Nationalstaaten gibt. Dementsprechend seien die Identitäten die Basis für die Bildung von staatlichen Interessen (vgl. Wendt 1992:398). Dabei geht er davon aus, dass die Interessen der Akteure nicht unabhängig vom sozialen Kontext seien, sondern sich stehts durch die Entwicklung von neuen Situationen neu ausrichten (vgl. Wendt 1992: 398). Er argumentiert dies vor allem damit, dass Situationen existieren können, bei denen Staaten noch keine Erfahrungen haben sammeln können und dementsprechend auf der Basis ihrer Wahrnehmung Entscheidungen treffen (vgl. Wendt 1992: 398).
Staaten arbeiten also nach dieser Ansicht mit Identitäten und in einem Sozialen Kontext. So wurden beispielsweise im Kalten Krieg die britischen Nuklearwaffen nicht als Bedrohung angesehen, weil Großbritannien Teil des westlichen Staatenwesens war und als Freund wahrgenommen wurde. Die sowjetischen Nuklearwaffen hingegen waren eine Bedrohung, weil wir die UdSSR als einen Feind mit einem komplett gegensätzlichen politischen System wahrgenommen haben. Staaten besitzen also dementsprechend Identitäten, die das Wahrnehmen der jeweils anderen Staaten beeinflussen. Als anderes Beispiel für Identitäten im Internationalen System könnte man die Rolle der Vereinigten Staaten nennen, welche häufig als „Anführer der freien Welt“ bezeichnet werden. In der Wahrnehmung von anderen sind die Vereinigten Staaten also ein Staat, der die anderen demokratischen Staaten in der Welt „anführt“ bzw. eine führende Rolle hat. Wichtig ist dabei, dass diese Rollen aus der Sicht von Wendt nicht unveränderlich sind und nicht durch Strukturen fest vorgegeben sind. So kann es dementsprechend passieren, dass Russland irgendwann nicht mehr als „Gefahr“ identifiziert wird, weil es sein Verhalten entsprechend verändert hat.
3.2 Kritik:
Jaeger argumentiert, dass Wendt sich zwar um eine schärfere „Kontierung“ des Konstruktivismus im Bereich der Internationalen Beziehungen bemühe, aber insgesamt doch stark auf den bereits aufbauenden Ideen/Konzepte der bereits bestehenden Denkschulen setze (vgl. Jaeger 1996: 319). Tatsächlich ist auch der Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen sehr stark auf Nationalstaaten und ihrem Agieren in einem anarchisch strukturierten Raum zu erkennen. Zwar kritisiert Wendt die Feststellung der neorealistischen Denkschule, dass die Anarchie und dem daraus resultierenden Selbsthilfe-System ein unveränderliches Konzept sei, geht aber trotzdem davon aus, dass es ein möglicher Zustand der Internationalen Staatenwelt ist. Weiterhin ist auch die Frage offen, wie sich die Wahrnehmungen von anderen Staaten genau bilden. Im oben genannten Beispiel wäre die Möglichkeit gegeben, dass die Sowjetunion trotz des komplett gegensätzlichen politischen Systems nicht als Bedrohung angesehen wird. Man muss also erfassen, welche Faktoren dafür sorgen, warum ein Staat als Freund oder als Bedrohung erfasst wird. Zudem muss man zwangsläufig davon ausgehen, dass manche Faktoren für die Entwicklung von Wahrnehmungen nicht sozial konstruiert sind. Wenn China eskalierende Maßnahmen im südchinesischen Meer oder gegen Taiwan startet, sind das harte Fakten und nicht eine von Menschen konstruierte Wahrnehmung.
Weiterhin ist die Frage, ob und inwiefern man mit Hilfe des Konstruktivismus Prognosen für die nahe Zukunft stellen kann. Mit Hilfe der anderen etablierten Denkschulen kann man beispielsweise die Zukunft der amerikanisch-chinesischen Beziehungen prognostizieren und davon ausgehen, dass wir in mittelbarer Zukunft eine Großmachtsrivalität bzw. einen Kampf um Einflusssphären sehen werden. Der Konstruktivismus hingegen kann nur auf einen aktuellen Zustand eingehen (Wie ist die Wahrnehmung der USA auf China etc.) und aktuelle Entwicklungen erkennen. Wohin diese Entwicklungen führen werden ist allerdings offen. Dementsprechend kann man die Prognosefähigkeit des Konstruktivismus in Frage stellen.
Quellen:
Krell, Gerd (2012). In: Michael Staack (Hg.): Einführung in die Internationale Politik. 5.Auflage. München: Oldenbourg Verlag, S. 31–83.
Brand, Alexander (2012): Medien – Diskurs – Weltpolitik: Wie Massenmedien die internationale Politik beeinflussen. Bielefeld: Transcript Verlag.
Jaeger, Hans-Martin (1996): Konstruktionsfehler des Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3 (2), S. 313–340.
Kruse, Jan (2020): Sozialkonstruktivismus. Hg. v. Hogrefe/Dorsch Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter https://portal.hogrefe.com/dorsch/sozialkonstruktivismus/.
Spektrum (2000): Konstruktivismus. Hg. v. Spektrum. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/konstruktivismus/8103.
Staack, Michael (Hg.) (2012): Einführung in die Internationale Politik. 5.Auflage. München: Oldenbourg Verlag.
Strebel, Hanniel (2009): Konstruktivismus – Darstellung und Kritik. In: MBS Texte 6, S. 3–14. Online verfügbar unter https://www.bucer.de/fileadmin/_migrated/tx_org/mbstexte135_b.pdf.
Wendt, Alexander (1992): Anarchy is what States make of it: The social Construction of Power Politics. In: International Organization 46 (2), S. 391–425.
3 Kommentare
Guter Artikel, lesenswert und gut verständlich
Hallo,
leider haben Sie den Konstruktivismus nicht verstanden und schließen sich lediglich einer eher theologischen Interpretation an.
Der Konstruktivismus konstruiert keine Wirklichkeit – jeder Mensch konstruiert die eigene Wirklichkeit. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Übereinstimmungen gibt (z. B. bei Farben, Zahlen, Naturgesetzen usw.) sondern die Konstruktion eher in ihrer Bedeutung als Entscheidungsgrundlage oder Basis für jeweilige Befindlichkeiten relevant ist. Denn sie eröffnet die Option, Veränderungen oder Erweiterungen in der Konstruktion vorzunehmen und dadurch den jeweiligen Handlungsspielraum zu erweitern.
Ein unschätzbar wertvolles Instrument in der Beratung oder Therapie und auch einfach nur im täglichen Leben.
Wahrscheinlich ist es schon zu spät für diesen Kommentar, aber ich konnte das nicht unkommentiert stehen lassen.
Hallo Romanda,
Vielen Dank für den Kommentar. Ich muss sagen, dass das sehr gute Punkte sind, über die ich auch noch mal genauer nachdenken muss. Mich hat der Kommentar/Feedback auf jeden Fall gefreut.