Afghanistan

Eigentlich wollte ich die Tage einen Beitrag zur aktuellen Evakuierung von Ortskräften und Staatsbürgern aus Afghanistan schreiben und gleichzeitig auf die „neue“ Taliban eingehen, allerdings haben die gestrigen Ereignisse das ganze nochmals durcheinandergeworfen. Die Anschläge am gestrigen Tage waren leider aufgrund der vorherigen Warnungen vorhersehbar und trotzdem haben diese massiven Schaden angerichtet. Mit 90 Toten und 150 Verletzten dürfte es einer der blutigsten Anschläge in der jüngeren Geschichte Afghanistans gewesen sein. Gleichzeitig ist es ein weiterer Beweis dafür, wie schlecht organisiert die Evakuierung war und dadurch Zivilisten als auch Soldaten in Gefahr geraten sind. Präsident Biden rechtfertigt sich nun dafür, dass er der US-Präsident ist, der endlich den Abzug aus Afghanistan durchgesetzt hat, will aber keinerlei Verantwortung für die aktuelle Situation in Afghanistan übernehmen. Stattdessen wird die Schuld vollständig auf die ehemalige afghanische Armee oder auf die Trump-Administration geschoben, die Anfang 2020 mit der Taliban-Führung bezüglich des Abzuges verhandelt hat.

Leider hat sein Narrativ einige Lücken und dafür fangen wir mit dem Doha-Abkommen an. Es ist sicherlich korrekt, dass das Doha-Abkommen zwischen der Trump-Administration und der Taliban alles andere als perfekt ist. Hinzukommt, dass man die damalige afghanische Regierung nicht in die damaligen Verhandlungen einbezogen hat und diese sogar genötigt hat, 5000 Taliban-Kämpfer aus den Gefängnissen zu entlassen. Allerdings darf man auch die Frage stellen, warum die Biden-Administration in Form des Außenministers Blinken und auch US-Präsident Biden das Abkommen nicht nochmals evaluiert haben und sich gegebenenfalls von dem Abkommen distanzierten. Es mag zwar ein schriftlicher Vertrag sein, man kann diesen aber durchaus kündigen/neu verhandeln, wenn eine neue Regierung ihren Dienst antritt. Weiterhin hat auch die Biden-Administration die afghanische Regierung nicht in den Abzug der westlichen Staaten eingeweiht bzw. mitwirken lassen.
Dabei kommen wir auch direkt zur zweiten Problematik: Der schnellen Kapitulation der afghanischen Armee.

Präsident Biden hat öffentlich erklärt, dass die afghanische Armee ja nicht kämpfen wollte und damit angedeutet, dass Afghanistan damit die Herrschaft der Taliban verdient hätte. Diese Aussage ist selbstverständlich ein absoluter Hohn für die Zivilbevölkerung, die sich nach 20 Jahren erneut einem Regime mit einer mittelalterlichen Weltsicht beugen muss und ist auch faktisch nicht korrekt. Dass die afghanische Armee strukturelle Probleme hatte, ist keine Neuigkeit; Dabei geht es vor allem um Korruption (z.B Einbehalten von Gehältern) und der fatalen Abhängigkeit von Teilstreitkräften an ausländische Unternehmen bei der Wartung von Flugzeugen. Wenn man dies mit der fehlenden Einbeziehung der Afghanen bei den Verhandlungen mit der Taliban kombiniert, dann darf man sich nicht wundern, dass die Kampfmoral in der Truppe eher schlecht als recht ist. Auch hier hat der Westen in den 20 Jahren versagt. Es reicht nicht, einfach ein paar Leuten eine professionelle militärische Ausbildung zu geben. Man hätte auch im Rahmen des „nation building“ stabile politische Strukturen und Institutionen schaffen müssen. Präsident Biden hat in seiner Ansprache zum Abzug offen gelogen, als er behauptete, dass Nation Building kein Ziel der Vereinigten Staaten und der NATO in Afghanistan gewesen sei.
Auf politischer Ebene lässt sich also insgesamt festhalten, dass viele, zum teils massive, Fehler begangen worden sind, welche dringend von den westlichen Staaten aufgearbeitet werden müssen, wenn man den nächsten Auslandseinsatz planen sollte. Ganz generell sollte man trotz dem Afghanistan-Debakel Auslandseinsätze allgemein nicht verteufeln oder verhindern. Man sollte und muss diese allerdings mit einer klaren Zielsetzung und einer ständigen Evaluierung versehen.

Was kommt jetzt auf Afghanistan zu?

Die jetzt entscheidende Frage ist, was nun mit Afghanistan passiert. Klar dürfte sein, dass die Taliban jetzt anfangen wird, ihre Herrschaft zu konsolidieren und eine Regierung zu bilden. Man muss sich bewusst sein, dass wir keine demokratischen Wahlen oder gar westliche Werte/Menschenrechte in Afghanistan erleben werden. Dabei lassen sich beispielhaft den Umgang mit Frauen oder mit ehemaligen Ortskräften benennen. Schon jetzt arbeiten die Taliban Listen mit eben jenen ehemaligen Ortskräften ab und töten diese zum Teil auf brutale Art und Weise, weil diese Verräter seien. Frauen wiederrum werden erneut in das mittelalterliche Weltbild der Scharia gedrückt und werden viele Rechte, die sie in den letzten 20 Jahren erlangt haben, wieder abgeben müssen. Die öffentlichen Bekundungen, dass die Frauen sämtliche Rechte bekämen, die ihnen die Scharia zugesteht, ist dafür bezeichnend und auch ein Hohn.

Bezüglich eines möglichen Auflebens des islamistischen Terrorismus bin ich ehrlich gesagt noch zwiespältig. Auf der einen Seite ist die Glaubwürdigkeit der Taliban aufgrund der Vergangenheit sehr gering und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie erneut „freundlichen“ Terrororganisatonen wie Al-Quaida Unterschlupf anbieten. Andererseits besteht aktuell die Gefahr, dass Afghanistan komplett ins Chaos stürzt, weil ein Ableger des IS (ISIS-K) offensichtlich aktiv wird und bereits erste Terroranschläge verübt hat. Interessant ist dabei, dass Taliban und der IS verfeindet sind und es durchaus zu Konstellationen kommen kann, dass westliche Staaten mit der Taliban zusammenarbeiten, um den ISIS-K effektiv bekämpfen zu können. Ein erstes Indiz dafür sind die aktuellen Luftschläge gegen Führungspersonen gegen den ISIS-K, welche zwangsläufig in Zustimmung mit der Taliban geschehen sind.

So kann es also sein, dass der Westen pragmatisch an die neue Situation angeht und heimlich mit den Taliban in solchen entscheidenden Fragen zusammenarbeitet, obwohl man diese offiziell nicht anerkennen möchte. Im Grunde eine ähnliche Vorgehensweise wie Russland und China, welche an Afghanistan angrenzen und verständlicherweise keine Lust auf islamistischen Terrorismus in ihren Grenzgebieten haben möchten. Da akzeptiert man lieber die Taliban-Herrschaft und versucht mit diplomatischer Anerkennung u. anderen Versprechen zu verhindern, dass Afghanistan erneut zu einem Heimathafen des islamistischen Terrorismus wird. Denn auch wenn diese Staaten aktuell über das Versagen des Westens spotten: Ein instabiles Afghanistan, welches als Terrorhafen dient, ist definitiv nicht im Interesse von Russland und China und insgeheim werden sie froh sein, dass der Westen 20 Jahre in Afghanistan versenkt hat und den Terrorismus in der Region in Schach gehalten hat.


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